Vor einiger Zeit habe ich hier das Buch „Dunkelnacht“ von Kirsten Boie vorgestellt. Das Buch beschäftigt mich immer noch. Oder eher die Geschichte im Buch. Wer hat es denn schon gelesen? Wie ist eure Meinung dazu?
„Weil auch in diesen Zeiten irgendwer das Richtige tun muss, einfach, weil es richtig ist.“ April, 1945. Alle spüren, dass der Krieg und die fürchterliche Ideologie der Nationalsozialisten kurz vor dem Ende stehen. Doch in der Nacht vom 28. auf den 29. April 1945, zwei Tage vor Hitlers Selbstmord, ereignet sich das dunkelste Kapitel der damals noch jungen Stadt Penzberg in Bayern. Denn während der einst von den Nazis abgesetzte Bürgermeister zurück ins Rathaus zieht, erlässt die Wehrmacht den Befehl, alle Widerständler sofort hinzurichten. Und zwischen allen Fronten stehen die Jugendlichen Marie, Schorsch und Gustl.
Dann habe ich erfahren, dass es ein Gespräch gibt. Der Bundespräsident und seine Frau sprachen mit der Autorin, dem Bürgermeister und Schülern aus dem Gymnasium von Penzberg. Ich war sofort neugierig. Auf der Seite des Bundespräsidenten war das Gespräch zwar angekündigt, aber anscheinend nicht öffentlich. Also habe ich einfach angefragt, ob es einen Mitschnitt geben wird und ob ich ihn bekommen könnte.
Die Antwort kam prompt und sehr freundlich. Ja, es gibt einen Mitschnitt und sie waren auch so nett, mir gleich den Link dorthin mitzuschicken.
Das Gespräch war wirklich interessant. Ich war erstaunt von den Meinungen der Schüler. Sie wohnen in der Stadt, in der dieses traurige Kapitel stattfand und trotzdem scheint es kein ständiges Thema zu sein. Es gibt eine Gedenkstätte – etwas außerhalb der Stadt – die wohl nicht so leicht zu finden ist. In der Schule gibt es ein Projekt zu diesem Thema. Aber sonst scheint es nicht groß Thema zu sein. Logisch. Einer der Schüler meinte, uns gehen die Zeitzeugen aus. Das ist das Problem. Wer soll uns noch davon berichten?
Penzberger Mordnacht
Was ist geschehen? In kurzen Worten: Der Krieg war praktisch schon vorbei. Die Amerikaner schon fast mit einem Fuß im Ort. Eine Radiodurchsage, die das bestätigte. Männer, die die Geschäfte im Rathaus wieder übernehmen und alles friedlich halten wollten. Eine NS-Einheit, mehr auf der Flucht, als auf dem Weg zu einem Ziel. Ein Offizier, ratlos, planlos. Eine Wehrwolfeinheit.
Das Ergebnis: 16 Tote
Ich bin mir keiner Schuld bewusst
Natürlich gab es einen Prozess. Aber die Aussage „Ich bin mir keiner Schuld bewusst“ sagt doch schon alles.
Es gab Urteile. Aber welches Urteil ist angemessen. Ich möchte das nicht beurteilen.
Die Autorin hat es in ihrem Buch geschafft, ein Gefühl für die Lebensumstände der Penzberger zu schaffen. Täter und Opfer kannten sich. Lebten auch nach den Taten gemeinsam in Penzberg. Wie kann man so etwas verarbeiten?
Die Kinder sind mit einer Ideologie aufgewachsen, die auch ihr Denken und Handeln beeinflusste. Mildernde Umstände? Ich denke, NEIN. Aber das sagt sich hier so leicht.
Im Gespräch meinte ein Schüler, wir vergessen oft, wie gut es uns geht. Ja, das vergessen wir ziemlich oft. Es geht uns gut. Wir leben in einem sicheren Land. Wir werden nicht bedroht, nicht verfolgt, keiner muss Angst um sein Leben haben.
Aber trotzdem gibt es auch heute Menschen, die sich der Ideologie des Naziregims zuwenden. Warum? Ich begreife es nicht. Vergessen wir so schnell? Müssen wir mehr darüber reden? Aber mit wem. Es stimmt, die Zeitzeugen gehen uns aus.
Ich höre auch viel, dass es sehr schwierig ist, mit ihnen über dieses Thema zu reden. Die Generation, die es erlebt hat, ist bald weg. Die nächste Generation scheint nichts zu wissen oder nicht darüber sprechen zu wollen.
Es werden also die Enkel sein, die die Verantwortung haben, darüber zu sprechen, es nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert.
Dichtung und Wahrheit
Kirsten Boie hat es geschafft Dichtung und Wahrheit so miteinander zu vermischen, dass ich beim Lesen ein ziemlich klares Bild der Geschehnisse hatte. Besonders bedrückend fand ich, dass ich das alles praktisch durch die Augen von Schorsch und Marie gesehen habe.
Die beiden sind gerade dabei sich zu verlieben. Das Buch beginnt mit ihrem ersten schüchternen Kuss. Und dann…
Dann folgt eine erste innige Umarmung, die eigentlich gar keine ist. Schorsch muss Marie beschützen. Vor dem, was sie sehen, was sie eigentlich gar nicht begreifen können. Nur nicht bemerkbar machen. Nur nicht auf sich aufmerksam mache.
Vielleicht ist es gerade die Geschichte der jungen Leute, die das ganze so real und bedrückend macht. Ich weiß nicht, ob ich so auf das Buch reagiert hätte, wenn es einfach nur die Auflistung der Geschehnisse wären.
Aber es ist real. Eine Tat, wie sie nicht nur in Penzberg stattfand. Es gibt viele Beispiele, dass das Kriegsende nicht überall ein schönes Ende war.
Ich habe vor einiger Zeit das Buch „Anonyma – eine Frau in Berlin“ gelesen. Auch hier Geschehnisse, die lange totgeschwiegen wurden.
Irgendwann muss Schluss sein mit dem Erinnern
Die Ereignisse der jüngsten Zeit zeigen uns doch, dass sich dieses Gedankengut wieder in den Köpfen festsetzten will. Vor allem in den Köpfen von jungen Leuten. Das finde ich erschreckend. Im Gespräch sagte die Autorin, dass sie wunderbar positive Reaktionen der Jugendlichen für ihr Buch bekommen hat. Das finde ich wiederum wunderbar.
Ein Zeichen, dass noch nicht alles verloren ist. Dass das Erinnern weiter gehen muss. Das wir gegenhalten müssen. Aufklären. Hinterfragen. Erinnerungen weitergeben. Eben nicht Schluss mit dem Erinnern.
Was können wir tun, damit so etwas nicht mehr passiert?
Weil auch in diesen Zeiten irgendwer das Richtige tun muss, einfach, weil es richtig ist.
Zitat aus dem Klappentext